"Big Brother": Wer Orwells "1984" las, wanderte in den DDR-Knast - WELT (2025)

Am 8. Juni 1949 erschien im Londoner Verlag Secker & Warburg George Orwells Roman "Nineteen Eighty-Four". Es war sein letztes, sein dreizehntes Buch. Um es in Ruhe schreiben zu können, hatte sich Orwell auf eine einsame Hebrideninsel zurückgezogen, in ein Haus ohne Elektrizität und ohne fließendes Wasser.

Von dort musste er auf seinem klapprigen Motorrad meilenweit fahren, um die notwendigen Einkäufe in einem kleinen Laden zu tätigen. Zwei Mal in der Woche kam die Post. Orwell war bereits todkrank, als er den Plan zu seinem Buch fasste; die meiste Zeit des Schreibens verbrachte er im Bett.

Er schaffte es gerade noch, die Reinschrift seiner "Phantasie in Form eines naturalistischen Romans" auf einer alten Remington Portable zu tippen. Am 3. September 1949 wurde er ins Londoner University College Hospital eingeliefert - der Tuberkulosekranke war oft zu schwach, um zum Röntgen aufzustehen. Orwell starb am 21. Januar 1950.

An seinen Verleger schrieb Orwell, er sei mit seinem Buch "nicht zufrieden, aber ganz unzufrieden bin ich damit auch nicht". Die Grundidee gefiel ihm nach wie vor: Die Schilderung der totalitären Gesellschaft von "Ozeanien", in welcher "Big Brother" herrscht, aus Englisch "Neusprech" geworden ist und die Menschen bis in ihre innersten Gedankengänge und Gefühle manipuliert werden.

Dem Buch aber, so fürchtete Orwell, könnte man zu sehr anmerken, dass ein Kranker es geschrieben hatte. Diese Furcht war unbegründet: Der Kampfgeist des Autors und seine Lust an der öffentlichen Auseinandersetzung waren lebendig geblieben. Zur gleichen Zeit, da Orwell an "1984" arbeitete, besprach er Jean-Paul Sartres Antisemitismus-Essay für den "Observer". Er werde Sartre einen ordentlichen Fußtritt verpassen, schrieb Orwell, selten habe er so viel Unsinn auf so wenigen Seiten gelesen.

Orwell wies seinen literarischen Agenten an, das Manuskript des Romans zu verbrennen, wenn er vor seinem Abschluss sterben sollte. "1984" wurde sein literarisches Testament. Orwell bat Freunde darum, ihm bei den Fahnenkorrekturen behilflich zu sein: "In einem Buch dieser Art darf es keine Druckfehler geben."

Dem Verleger Warburg schrieb er, 10.000 Exemplare des Buches ließen sich bestimmt absetzen. Und tatsächlich ließ der Erfolg nicht auf sich warten. "1984" wurde vom "Evening Standard" zum Buch des Monats gewählt, in den USA schrieb Philip Rahv eine begeisterte Rezension in der "Partisan Review", und als der amerikanische Book of the Month Club erhebliche Kürzungen verlangte, widersetzte sich Orwell und hatte die Genugtuung, dass sein Buch daraufhin auch in Amerika in einer ungekürzten Fassung erschien.

Bedeutender als der materielle Erfolg aber war die Wirkung, die "1984" in allen politischen Lagern ausübte - und die in Abwehr und Zustimmung bis heute andauert. Der Roman musste als antikommunistisches Pamphlet und als Attacke auf die Sowjetunion gelesen werden.

Wer konnte sich hinter dem Großen Bruder, dem "Gesicht mit dem dicken schwarzen Schnauzbart und den ansprechenden, wenn auch derben Zügen" anderes verbergen als Stalin? Und wer anderes als Stalins Erzfeind Leo Trotzki konnte Emmanuel Goldstein sein, "mit seinem breiten wirren Kranz weißer Haare und einem Ziegenbärtchen"? Die russische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. 1950 schimpfte die Moskauer "Prawda", George Orwell mit seiner "Verachtung für das Volk" sei ein "Feind der Menschheit".

Das amerikanische Foreign Department aber nutzte "1984" - wie zuvor bereits Orwells Satire "Die Farm der Tiere" - als eine wirkungsvolle Waffe im Propagandakrieg mit der Sowjetunion. In einem Memorandum mit dem Titel "Participation of Books in Department's Fight Against Communism" schrieb Außenminister Dean Acheson am 11. April 1951, sein Ministerium fühle sich dazu berechtigt, offen oder versteckt Übersetzungen des Buches von Orwell in den Ländern des Ostblocks zu fördern. FBI und CIA waren der gleichen Meinung, unter anderem war von einer chinesischen Ausgabe die Rede.

Wichtige Rolle im Kampf gegen Kommunismus

Ein Jahr nach der englischen Erstveröffentlichung erschien die deutsche Übersetzung von "1984" in Melvin Laskys neugegründeter Zeitschrift "Der Monat". Das Buch spielte eine wichtige Rolle im antikommunistischen Kulturkampf des von der CIA finanzierten Congress for Cultural Freedom, in dem Melvin Lasky eine zentrale Rolle einnahm.

Dass ausgerechnet Laskys Trotzki-Biographie einige Jahre zuvor in den USA nicht erscheinen durfte, um den Bündnispartner UdSSR nicht zu ärgern, hätte Orwell kaum erstaunt. In den Ländern des kommunistischen Machtbereichs gehörte "1984" zur Pflichtlektüre der Dissidenten.

Wie gefährlich es aber sein konnte, Orwell zu lesen, zeigte sich nicht zuletzt im "Leseland DDR". Im Oktober 1978 verurteilte das Bezirksgericht von Karl-Marx-Stadt einen 27 Jahre alten Diplom-Theologen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Er hatte "1984" gelesen und an Bekannte verliehen.

In der Urteilsbegründung des Gerichts hieß es: "Das Buch '1984' soll dazu dienen, den Sozialismus zu verteufeln und zu verunglimpfen. Dabei wird insbesondere die Sowjetunion, sowie die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei diffamiert." In den letzten Jahren, so das Gericht, sei "1984" - "dieses Machwerk" - insbesondere im ideologischen Kampf gegen die DDR eingesetzt worden. Wer heute den totalitären Charakter der DDR bestreitet, muss sich fragen lassen, wie man einen Staat nennen soll, in dem man zu langen Haftstrafen verurteilt wurde, weil man ein bestimmtes Buch gelesen hatte.

"1984" als negative Utopie

Nach dem Ende der kommunistischen Regime in Europa wurde, über die Grenzen politischer Ideologien hinweg, "1984" verstärkt als negative Utopie kommender technologischer Entwicklungen gelesen - zusammen mit Romanen wie Samjatins "Wir" und Aldous Huxleys "Brave New World".

Seite für Seite wurde Orwells Roman daraufhin überprüft, wie genau der Autor Entwicklungen vorausgeahnt hatte, die in die Internet-Gesellschaft der Gegenwart mit ihren Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten führen. Diese "unpolitische" Lektüre des Romans dürfte Orwells eigenen Absichten kaum entsprechen.

Auf der anderen Seite wollte Orwell sein Buch keineswegs ausschließlich als anti-kommunistische Kampfschrift verstanden wissen. Den Anlass für "1984" lieferte die Konferenz von Teheran, bei der sich Ende November 1943 die drei Alliierten Roosevelt, Stalin und Churchill über die künftigen Einflusssphären in der Welt verständigten.

Drei Jahre später rezensierte Orwell James Burnhams einflussreiche Schrift über die kommende "Revolution der Manager" (1940). Burnham sagte für die nahe Zukunft die Herausbildung weniger Superstaaten in den industriellen Zentren Europas, Asiens und Amerikas voraus.

Jeder dieser Superstaaten würde streng hierarchisch organisiert sein und aus einer kleinen Talent-Aristokratie an der Spitze und einer großen Bevölkerungsmehrheit aus Halb-Sklaven bestehen. Orwell erschien die Konferenz von Teheran als erster Schritt auf dem Weg zur Bildung dieser autoritären Superstaaten. In "1984" ist die Welt in die Regime von Oceania, Eurasia und Eastasia aufgeteilt; Orwell wollte damit warnend aufzeigen, wie schnell auch im Westen der Weg in den Totalitarismus führen konnte.

Eine Woche, nachdem das Buch erschienen war, bekräftigte Orwell diese Warnung in einem Brief an die amerikanische Automobilarbeiter-Gewerkschaft: "Mein jüngster Roman ist nicht als Angriff auf den Sozialismus oder die Labour Party gedacht. Er will die Perversionen aufzeigen, die eine Kommandowirtschaft mit sich bringt und die zum Teil im Kommunismus und im Faschismus bereits Wirklichkeit geworden sind. Ich glaube auch, dass sich totalitäres Gedankengut überall in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt hat, und ich habe zu zeigen versucht, wohin dies in letzter Konsequenz führen muss. Das Buch spielt in England, um zu zeigen, dass die Englisch sprechenden Völker von Natur aus nicht besser sind als andere und dass der Totalitarismus, wenn man nicht dagegen kämpft, überall triumphieren kann." 1984 ist keine Prophetie, es ist eine Warnung.

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